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Manchmal lohnt es sich, für die aktuellen ethischen Fragen zurückzublicken. Eine der Fragen: Wie ist ein menschenwürdiges Leben möglich?
Der Blick zurück kann zu Alexander Mitscherlich gehen – Mediziner, Psychoanalytiker und Essayist. Vor dreißig Jahren, am 26. Juni 1982, starb Mitscherlich. Und seine Frage war, wie ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Das hat er sich nicht ausreden lassen – er hat es vielmehr immer wieder anderen ‚eingeredet‘. Etwa 1969, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandelns erhielt. Schon damals las er der versammelten, ehrwürdigen Festgemeinde die Leviten. Seine Kritik der bundesrepublikanischen Wirtschaftswundermentalität wollte niemand wirklich hören.
Genauso wenig wie seine Fragen: nach der Schuld der Deutschen am zigmillionenfachen Menschenmord in nationalsozialistischer Zeit, nach den Bedingungen für Frieden in Zeiten des Kalten Krieges, nach den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens für alle.
Zu diesen Themen kam er nicht von ungefähr. Seine Dissertation muss er abbrechen, weil sein Doktorvater Jude ist. Die Buchhandlung, die der junge Ex-Student aufmacht, wird 1935 von der SA geschlossen. Mitscherlich wird steckbrieflich gesucht und emigriert in die Schweiz. Er wird festgenommen und sitzt monatelang in Haft. Und nach dem Krieg beobachtet Mitscherlich – mittlerweile Mediziner – den Nürnberger Ärzteprozess, dokumentierte akribisch die grausamen Experimente nationalsozialistischer Ärzte. Sein Bericht bringt ihm den Ruf eines Nestbeschmutzers und Vaterlandsverräters ein. Erst Jahre später kann er veröffentlicht werden.
Seine Themen stehen heute noch auf der Tagesordnung. Seine Überlegungen zwingen mich zu einem genauen Blick auf die Welt: Auf die Vergangenheit, die nicht ruhen lässt, auf die Gründe für Krieg und Terror, auf die Suche nach einem Leben, das diesen Namen verdient.
Was ich spannend finde: In der Gegenwart veraltet alles schnell, nicht nur Popsongs, sondern auch der Sound der Sprache der Eltern und Großeltern. So klingt vieles an Mitscherlichs Schriften altbacken. Aber dass seine Frage nach einem menschwürdigen Leben auch meine ist, berührt mich. Er schreibt: „Nichts ist leichter als Tabus zu zerbrechen, und nichts schwieriger, als ein vernünftiges Zusammenleben zu organisieren.“